Plötzlich Spießer.

Ich gebe es zu: Am liebsten würde ich diesen Text mit einer Zigarette beginnen. So wie ich circa 10 Jahre lang so ziemlich jeden Text mit einer Zigarette begonnen habe. Mit einer kleinen Handvoll Pueblo-Tabak, eingerollt in ein dünnes Gizeh-Blättchen, formvollendet mit einem Zig-Zag-Slimfilter. Gott, wie viele ich von diesen Dingern wohl geraucht habe? 100.000? Eigentlich will ich das gar nicht so genau wissen.

Denn seit über 4 1/2 Jahren rauche ich ja gar nicht mehr. Und ungefähr genauso lange habe ich es nicht gebacken gekriegt, so einen Text wie diesen hier zu schreiben. Zeitweise war ich sogar überzeugt, dass ich ohne Zigaretten überhaupt nicht mehr schreiben könnte. Geschweige denn einen normalen 08/15-Arbeitstag überleben. Aber siehe da: Es geht doch. Oder doch nicht? Wir werden es sehen, wenn dieser Text hier fertig ist.

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Generation i: Warten auf Godot

 

Anscheinend gibt es für jeden Lebensabschnitt, den wir durchlaufen, die eine große, universelle Frage, die uns umtreibt. In den frühen Jahren unserer Entwicklung sind wir unschuldig, unbeholfen, naiv und vor allem neugierig auf die Welt. Ständig recken wir unseren kleinen Zeigefinger in irgendeine Richtung, deuten auf irgendein Objekt, und fragen staunend: „Was ist das?“. Während wir heranwachsen, weicht diese Frage allmählich dem nun allgegenwärtigen „Wer bin ich?“ – eine Identitätssuche, die sich in der Rebellion gegen Eltern, Lehrer oder Autoritäten spiegelt und der wir mittels Anschluss an die unterschiedlichsten Subkulturen eine Gestalt verleihen. An die Frage, die danach kommt und die sich, folgt man den gesellschaftlichen Entwicklungen, eindeutig dem unsrigen Generation i -Dilemma zuordnen lässt, habe ich bis vor wenigen Jahren kaum einen Gedanken verschwendet. Spätestens aber, seitdem ich die 30er-Marke überschritten habe, scheint sie nicht nur an Dringlichkeit gewonnen zu haben, nein, inzwischen lastet sie regelrecht tonnenschwer auf meiner Brust. Sie lautet >>Wann?<<.

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Neue Wege auf alten Straßen – Valencia 2016

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R.: "Boar man, diese Idioten!"
A.: "Jetzt reg dich doch nicht so auf."
R.: "Ich reg mich aber auf!"
A.: "Wir können es nun mal nicht ändern."
R.: "Ich weiß, aber die onanieren den ganzen Tag 
 und es ist ihnen scheißegal,
dass sie uns hier warten lassen!" 

So ungefähr sah die Unterhaltung zwischen R. und mir aus, als wir an einem Märzsonntag bei strömendem Regen an der Fernbushaltestelle der Leipziger Innenstadt standen und zermürbende 90 Minuten auf den ADAC-Postbus warteten. Die vergangenen 24 Stunden hatten wir mit Unterbrechungen schon in U-Bahnen, S-Bahnen und im Flugzeug, d.h. in nahezu allen erdenklichen Verkehrsmitteln verbracht und der Postbus war beinah die letzte Etappe auf unserer Rückreise vom frühlingshaften Valencia ins nasskalte Berlin.

Wann immer R. sich aufregt, übe ich mich in stoischer Gelassenheit – zumindest, sofern ich nicht der Auslöser für seine Frustration bin. Meistens gelingt mir das recht gut, zumal seine emotionalen Reaktionen auf Unvorhergesehenes oftmals bei mir eine seltsame Mischung aus Attraktion und Amusement auslösen. Ich finde es gut, wenn ein Mann für seine Interessen einsteht und nicht waschlappenartig den Schwanz einzieht, sobald es ein Problem gibt. Außerdem benutzt er als Nicht-Muttersprachler oft merkwürdige Formulierungen, die mich innerlich grinsen lassen. Wenn laut Aussage von R. jemand onaniert, ist das seine Beschreibung für dessen gnadenlose Selbstüberschätzung trotz offenkundiger Inkompetenz. Ein schönes und treffendes Bild, finde ich.

Dass R. und ich uns bei Stresssituationen, die durch höhere Gewalt verursacht werden, nicht auch noch zusätzlich in die Haare kriegen, erachte ich als gutes Zeichen. Genauso, dass wir es fast eine ganze Woche lang in einem anderen Land beinah rund um die Uhr ohne allzu große Überwerfungen und Dramen miteinander ausgehalten haben. Der erste gemeinsame Urlaub ist immer eine zusätzliche Feuertaufe für eine noch neue und junge Beziehung. Er zeigt, wie alltagskompatibel man ist. Wie lange man Toleranz und Geduld man für den anderen aufbringen kann. Wie viel man sich wirklich zu sagen hat. Oder im schlimmsten Fall, wie groß am Ende die Bereitschaft bei beiden Parteien ist, sich gegenseitig umzubringen. R. und ich sind sehr lebendig aus Valencia zurückgekehrt.

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Berlinale 2016 – Gesammelte Werke

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Wer mit einer Presseakkreditierung zur Berlinale geht, weiß spätestens nach dem ersten Festivalmarathon, womit er abgesehen von hunderten Filmen aus der ganzen Welt noch rechnen darf. 11 Tage Festival bedeuten in der Regel 10 Nächte mit maximal 4 – 5 Stunden Schlaf, überfüllte Kinos voll mit schnarchenden, quasselnden und manchmal auch pupsenden Journalisten (!) und – natürlich – die gefürchtete und verhasste Berlinale-Grippe, die jedes Jahr aufs Neue grassiert und meist spätestens ab der Mitte des Festivals einsetzt, wenn man sich ohnehin schon elend und übermüdet genug fühlt.

Aber was nimmt man nicht alles in Kauf, um Zeuge all der neuen cineastischen Highlights zu werden, die das Festival nun seit stolzen 66 Ausgaben bietet. Doch ob der Zuwachs an Stress und der Mangel an Schlaf mit ein paar echten Offenbarungen belohnt wird, weiß man leider meistens erst hinterher. Bei meiner letzten Akkreditierung zur 64. Berlinale gab es tatsächlich ein paar wirkliche Hingucker, die mir noch lange im Gedächtnis bleiben werden. Nymphomaniac I zum Beispiel. Die geliebten Schwestern von Dominik Graf. Und natürlich Boyhood. Dieses Jahr habe ich leider keinen besonderen Anlass gefunden, um mich in langen Lobeshymnen zu ergehen. Natürlich waren viele Filme ganz okay, ein paar wenige waren gut und ein paar andere wiederum zwar schlecht, aber doch zumindest im Anschluss diskussionswürdig, weil sie zumindest spannende Fragen zuließen. Zudem muss erwähnt werden, dass ich logischerweise nicht alle Filme gesehen habe und mein Urteil dementsprechend keine allgemeingültige Aussagekraft für das gesamte Festival hat. Fuocoammare, den diesjährigen Gewinnerfilm, habe ich beispielsweise verpasst. Vielleicht hätte ich ihn, auch wegen seiner politischen Dringlichkeit, tatsächlich an die Spitze meines persönlichen Rankings gesetzt, who knows. Da das aber wie gesagt nicht der Fall ist, müsst ihr nun mit dieser sehr subjektiven Auswahl an Filmen und den dazugehörigen, mal lobenden, mal kritischen Texten Vorlieb nehmen. Viel Spaß. SAY WHAT?! Weiterlesen…

No Matter What Or Who You’ve Been

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Als du das Wort ergreifst, bricht um dich herum der Jubel aus. Noch kann ich dich nicht sehen, aber ich höre, wie du im Raum nebenan zum Publikum sprichst. Zwei Stunden lang habe ich mir alte Fotos, Songtext-Notizen und Plattencover von dir angeschaut. Dinge, die einmal dir gehörten oder ausschließlich deinetwegen angefertigt wurden. Dinge, die es ohne dich nicht geben würde. Sogar deine Handschuhe und die magischen Kristallkugeln für deine Rolle in The Labyrinth habe ich gesehen, wenn auch hinter Glas. Trotzdem – besser kann es nicht werden, hatte ich gedacht. „Not only is it the last show of the tour but it’s the last show I will ever do“, höre ich dich sagen. Die ersten Akkorde von Rock’n’Roll Suicide erklingen, als ich den Raum betrete. Hammersmith, Abschlusskonzert 1973. Überlebensgroß und omnipräsent hat man dich an die Wände des 10 Meter hohen Raumes projiziert, dem Herzstück des Ausstellung DAVID BOWIE IS im Martin-Gropius-Bau, die ich am 23.08.2014 besuche. Die im Raum arrangierten Kostüme verraten, dass du nur 1,78 m groß warst. Trotzdem warst du ein großer Mann. Jetzt bist du fort. Weiterlesen

Fast ein ganzes Leben

„Ein Krankenhaus ist ein schwarzer Ort“, sagt der Mann mit dem dicken Verband um den Kopf. Es ist der einzige Satz, den ich verstehe. Sichtlich geschwächt sitzt er auf seiner Bettkante und isst ein Stück Apfel. Er kommt ursprünglich aus Polen und wurde kürzlich wegen einem Blutgerinnsel im Gehirn operiert, weshalb sein Sprachzentrum massiv in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich kenne ihn nicht, aber er scheint trotzdem zu verstehen, was in mir vorgeht. Es ist Mitte November, Abendbrotszeit im Krankenhaus Olvenstedt. Dem Mann im Nachbarbett schmiere ich ein Leberwurstbrot und reiche es ihm in kleinen Stücken. Es ist mein Opa, der gerade eine zweite schwere OP hinter sich hat und seitdem nicht mehr derselbe ist. Meine Oma, die derweil im Pflegeheim auf ihn wartet und bereits vor Jahren an Demenz erkrankt ist, ist das schon lange nicht mehr. Beide wissen nicht mehr, wer sie einst waren. Aber ich weiß es noch. Weiterlesen

Sex zum Anfassen & elliptische Gefühle: LOVE 3D von Gaspar Noé

 

Nur etwa zwei Sekunden mussten meine Augen das Kinoplakat abtasten, bis ich wusste, dass ich diesen Film sehen wollte. Drei Münder, die sich aufeinander legen, drei Zungen, die ineinander gleiten. Glitzernde Speichelfäden runden den Look ab. Sexy, intim, provokativ und gefährlich ist dieses Bild, obwohl es auf der deskriptiven Ebene doch eigentlich nur einen Kuss zeigt. Dennoch ködert es uns mit exorbitanter Sinnlichkeit, mit verborgenen Fantasien oder wie in meinem Fall: Mit einem Verständnis von erotischer Ästhetik, bei dem ich andocken kann und möchte. LOVE 3D hat eines der besten Kinoplakate in die Werbetrommel geworfen, die in den letzten Jahren gesehen habe. Vorweggenommen sei, dass der Film das sinnliche Versprechen dieser stilisierten Momentaufnahme für mich persönlich nur unzureichend erfüllen konnte. Trotzdem hat er mich, bezogen auf seinen wortgewaltigen Titel und den nervenzerfetzenden Kampf seiner Hauptfiguren um oder gegen ihre Gefühle, auf eine interpretative Reise geschickt, die ich nun mit euch teilen möchte. SAY WHAT?! Weiterlesen…

Filmreview: „Carol“ von Todd Haynes

 

Sapphische Leidenschaft und plakative Kontraste

Gleich und gleich gesellt sich gern, aber Gegensätze ziehen sich an. Zwei Aphorismen, die zwei völlig gegenläufige Thesen vertreten, in deren Kern aber trotzdem jeder etwas Wahres finden kann. Denn zum einen umgibt sich der Mensch gern mit anderen, die seine Werte, Meinungen oder seinen Blick auf die Welt teilen. Zum anderen geht zwischenmenschlicher Anziehung zumeist eine Leerstelle im Unterbewusstsein voraus, die es zu füllen gilt: Das Gegenüber hat, kann oder ist etwas, das uns selbst (noch) fehlt. Wer begehrt, sucht nicht nur nach Gemeinsamkeiten. Das Potenzial des Andersartigen schafft ebenfalls den Reiz.

Carol (Cate Blanchett) und Therese (Rooney Mara) sind grundsätzlich verschieden, aber ein schwerwiegendes Dilemma ist ihnen beiden gemeinsam: Ihr Begehren findet in ihren gänzlich unterschiedlichen Lebensrealitäten keinen Platz. Carol ist Ehefrau, Mutter und aus gutem Hause, Therese ist eine einfache Verkäuferin, die noch auf der Suche nach ihrem erwachsenen Ich ist. Beide begegnen sich zum ersten Mal, als Carol ein Weihnachtsgeschenk für ihre Tochter kauft und sich von Therese beraten lässt. Es sind die konservativen 1950er Jahre, in denen der Zwang zur Norm zum Alltag gehört und abweichende Bedürfnisse nur im Verborgenen gelebt werden können. Konvention und Etikette erlauben keine Ausnahmen – erst recht nicht, wenn es um gleichgeschlechtliche Liebe geht. SAY WHAT?! Weiterlesen…

Ich bin nur wegen der Bärte hier

Seitdem ich vor 1 1/2 Jahren die Pille abgesetzt habe, sind merkwürdige Dinge mit mir geschehen. Eine kleine Entwarnung für die männlichen Leser unter euch: Das hier wird kein Text über Menstruationsbeschwerden, selbstgefilzte Bio-Tampons (ja, das gibt’s zu meinem eigenen Erschrecken wirklich) oder sogenannte „Frauenprobleme“, wobei ich es immer noch skandalös finde, dass das nach wie vor so ein Tabuthema in der Gesellschaft ist. Wenn ich von merkwürdigen Dingen spreche, meine ich damit in erster Linie drei psychosomatische Aspekte, die sich bei mir seitdem massiv verändert haben: 1. Die Wahrnehmung meiner eigenen Weiblichkeit. 2. Mein Sex-Drive. Und 3. Mein Geschmack im Bezug auf Männer.

Neben meiner Lossagung von hormoneller Fremdbestimmung und einem daraus resultierenden einschneidenden (!) libidinösen Erlebnis vor etwa einem Jahr möchte ich mich im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht nur auf die weibliche Triebhaftigkeit fokussieren, sondern mich darüber hinaus auch mit als besonders maskulin geltenden Sexualattributen beschäftigen. Denn nachdem ich jüngst eine Vielzahl sehr männlich aussehender Männer (Tautologien ftw!) in der freien Wildbahn beobachten durfte, kam ich hinsichtlich einer Diskrepanz ins Grübeln, die ich vorab mal als provokante Teaser-Frage an die hier benannte Spezies in den Raum werfen möchte. Sie lautet: Fühlt ihr euch wirklich so maskulin, wie ihr ausseht? SAY WHAT?! Weiterlesen…

Filmreview: Steve Jobs (Regie: Danny Boyle)

Dirigieren im geschlossenen System

Wer als Visionär erfolgreich sein will, muss sich von der Vorstellung verabschieden, jederzeit bei seinen Mitstreitern hoch im Kurs zu stehen. Integrität, Durchsetzungsvermögen und Entscheidungskompetenz haben nicht zwingend etwas mit Beliebtheit zu tun. Was stattdessen zählt, ist die Hingabe für die Vision. Die Leidenschaft für eine Idee oder ein Produkt, die sich auch durch Misserfolge niemals ausbremsen lässt. Ein Visionär muss ein Ziel vor Augen haben und wissen, dass der Weg dorthin schmerzhaft und steinig ist. Steve Jobs wusste das. SAY WHAT?! Weiterlesen…