Plötzlich Spießer.

Ich gebe es zu: Am liebsten würde ich diesen Text mit einer Zigarette beginnen. So wie ich circa 10 Jahre lang so ziemlich jeden Text mit einer Zigarette begonnen habe. Mit einer kleinen Handvoll Pueblo-Tabak, eingerollt in ein dünnes Gizeh-Blättchen, formvollendet mit einem Zig-Zag-Slimfilter. Gott, wie viele ich von diesen Dingern wohl geraucht habe? 100.000? Eigentlich will ich das gar nicht so genau wissen.

Denn seit über 4 1/2 Jahren rauche ich ja gar nicht mehr. Und ungefähr genauso lange habe ich es nicht gebacken gekriegt, so einen Text wie diesen hier zu schreiben. Zeitweise war ich sogar überzeugt, dass ich ohne Zigaretten überhaupt nicht mehr schreiben könnte. Geschweige denn einen normalen 08/15-Arbeitstag überleben. Aber siehe da: Es geht doch. Oder doch nicht? Wir werden es sehen, wenn dieser Text hier fertig ist.

Vielleicht sind oder waren es auch gar nicht so sehr die Zigaretten, die mich am Schreiben gehindert haben. Vielleicht war es der grundsätzliche Lebenswandel, der etwa zeitgleich vor 4 1/2 Jahren eingesetzt ist. Vielleicht gibt es seitdem einfach nichts mehr zu sagen?

Nein, das ist Bullshit. Die 20 Textentwürfe, die im Backend dieses Blogs schlummern, deuten zumindest das Gegenteil an. Irgendwie hatte ich immer was zu sagen, nur habe ich meine Gedanken nie zu Ende formuliert. Plötzlich gab es andere Dinge, die wichtiger waren. Und das wiederum hat sehr wohl etwas mit meinem veränderten Lebenswandel zu tun.

Schluss mit lustig

Als ich 30 wurde, dachte ich noch: Das war’s. Jetzt kommt der große Knall und plötzlich ist alles anders. Schluss mit den Partyexzessen, Schluss mit Tinder und OK-Cupid, Schluss mit den brotlosen Karriereirrwegen und Schluss mit dem Leben als „armer Poet“. Diesen Spitznamen hatte mir meine Mutter einmal verpasst, als sie mich in meiner Neuköllner 1-Zimmer-Wohnung besuchte und mit dem Laptop auf dem Schoß in exakt derselben Pose im Bett liegen sah. Und ja, das war tatsächlich lange Zeit mein Leben: Wein und selbstgedrehte Kippen, Clubs und Partys, Festivals und Pressevorführungen und hier und da ein Date, eine Affäre oder auch mal eine stürmische Romanze. Alles begleitet von dem flinken Getippe meiner Finger, die für wenig bis gar kein Geld verschriftlichten, was mich und die Welt da draußen so umtrieb. Ich habe es geliebt.

Der arme Poet (Carl Spitzweg, Gemeinfrei)

Trotzdem wusste ich, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten könnte. Dass Berlin einem zwar scheinbar ewig währende Berufsjugendlichkeit ermöglicht und attestiert, dies aber nichts an dem Tatbestand ändert, dass wir dennoch älter werden. Als würde man in einem aus der Zeit gefallenen Tante-Emma-Laden immer wieder das Mindesthaltbarkeitsdatum der abgelaufenen Produkte überstempeln. Da nützt es auch nichts, wenn man die schönsten Backwaren im Schaufenster wiederholt mit Haarlack einsprüht. Von innen sind sie trotzdem vertrocknet oder steinhart.

Entsprechend hatte ich mich also innerlich präpariert, als ich mich diesem neuen Lebensabschnitt näherte. Überraschenderweise blieb der große Knall jedoch zunächst aus. Dabei hatte ich mir pünktlich zu meinem 30. Geburtstag sogar eine Alibi-Beziehung zugelegt, mit der ich endlich vernünftig werden wollte. C. war lieb, intelligent, vernünftig, zielstrebig und – nicht zuletzt – verbindlich und committed. Dass das alles aber nichts nützt und die Beziehung trotzdem Zeitverschwendung ist, wenn man keine tiefergehenden Gefühle füreinander empfindet, musste ich mir schließlich wenige Monate später eingestehen. Verdammt, war ich mit 30 etwa wirklich schon so abgebrüht? Oder war ich vielleicht einfach noch nicht so weit, mich von meinem alten Leben zu trennen? Und falls doch: Wie sollte dieses „neue“ Leben überhaupt aussehen?

Sinnsuche ohne Fahrplan

Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen blassen Schimmer. Ich hatte keine hochgestochenen Ziele wie manch 25-jähriger Karrierist, der von teuren Urlauben, teuren Autos oder einer noch teureren Eigentums-Loftwohnung in Mitte träumt. Genauso wenig wollte ich auswandern, mich mit einer besonderen Geschäftsidee selbständig machen, Teil einer Kommune werden oder mich bei einer Weltreise auf einen Erkenntnistrip zu mir selbst begeben.

Meine Bestrebungen waren eigentlich so bescheiden, dass Menschen jenseits des Berliner Nabels als Antwort darauf wohl nur irritiert geblinzelt hätten. Ich wollte ein normales Gehalt verdienen, das meinen Qualifikationen entspricht und sich nicht nach Ausbeutung anfühlt. Und ich wollte einen Partner finden, mit dem mittel- bis langfristig doch mehr möglich war als nur lauwarme Gefühle und auf eisgekühltem Spätibier. Doch wie dieses Mehr aussehen sollte? Auch das war in den trüben Gewässern meines Bewusstseins noch nicht an die Oberfläche geschwappt.

Ohne die folgenden Jahre prätenziös als Heldenreise rekapitulieren zu wollen: Ja, der Weg zur wie auch immer gearteteten Veränderung war in beiden Fällen hart und steinig. Denn gute Jobs und gute Beziehungen liegen in Berlin nun mal nicht auf der Straße. Eher findet man hier ein Sofa auf dem Bürgersteig, das noch nicht durchgesessen und vollgepisst ist. Und rückblickend verstehe ich auch diejenigen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die Berlin irgendwann den Rücken gekehrt haben, weil das eine oder das andere – oder im worst case beides – hier, in diesem institutionalisierten Jungbrunnen, schließlich unmöglich schien. Wer ewig jung bleibt, muss zwar niemals die Party verlassen. Der Preis dafür bleibt jedoch fehlende Stabilität und fehlendes Commitment – in vielerlei Hinsicht.

Party mit 30 oder drüber: In Berlin kein großes Ding (privat)

Dabei will ich niemanden verteufeln, der auch im fortgeschrittenen Alter lieber auf Raves geht, anstatt über die Riesterrente nachzudenken. Age Shaming ist und bleibt einfach panne. Genauso wenig möchte ich behaupten, dass sich nicht beides kombinieren ließe: Ein Großstadtleben voller Abenteuer, Abwechslung, Unverbindlichkeit und Leichtigkeit, während man gleichzeitig die Benefits von beruflichem Aufstieg und finanzieller Sicherheit genießen kann. Dummerweise ist dieses Lebensmodell aber meistens nur den rich kids vorbehalten, die aus überdurchschnittlichen Verhältnissen stammen.

Alle anderen müssen nun mal im Schnitt 40 Stunden pro Woche malochen und sind am Wochenende schlichtweg zu platt, um vorm Berghain Schlange zu stehen (was sich im Zuge der Pandemie ohnehin vorerst erledigt hat). Zudem verändert sich bei vielen auch die Wahrnehmung der eigenen Lebenszeit, sobald man die 30, 35 oder spätestens die 40 überschritten hat. Die Hälfte ist da roundabout nämlich schon rum. Und plötzlich merkt man auch, dass man für manche Dinge gar keine Zeit mehr hat oder schlichtweg nicht mehr haben will. Schlechte Filme zum Beispiel. Sinnloses Gelaber von unangenehmen Fremden. Überstunden, in denen man Nonsenseaufgaben macht. Oder Wartezeiten, die man besser nutzen könnte (womit wir wieder bei der Schlange vorm Berghain wären).

Auf zu neuen Ufern

Ich selbst musste derweil feststellen, dass ich meine Freizeit plötzlich in Dinge zu investieren begann, für die ich noch wenige Jahre zuvor wenig bis gar kein Interesse hatte. Dinge, die mir das Spießerlabel direkt auf die Stirn stempeln und mit denen ich mich unmerklich in eine Alman-Meme verwandelt habe. Dabei fing alles so harmlos an.

Als erstes lernte ich, zu kochen. Nicht aus einem undefinierten Impuls heraus, sondern weil ich eine Beziehung zu einem Vegetarier eingegangen war, der leider auch nur die Basics in der Küche beherrschte. Und wenn ich nicht für den Rest meines Lebens Nudeln mit Pesto essen wollte, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als selbst den Quirl in die Hand zu nehmen. Shoutouts an dieser Stelle an Jamie Oliver, der nicht nur fantastische 5-Zutaten-Gerichte kredenzen kann, sondern auch viele Veggie-Mahlzeiten im Repertoire hat.

Weiter ging’s mit dem Thema Handwerk – ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie man aus der Not eine Tugend macht. Zumindest, wenn man auf Wohnungssuche in Berlin den heiligen Gral ausgebuddelt hat: Eine bezahlbare Altbau-Mietwohnung, die allerdings dringend renovierungsbedürftig ist. Jenseits von den klassischen Umzugarbeiten wie Wände streichen und Billy-Regale aufbauen, mussten R. und ich also einiges erlernen, um ein Zuhause zu schaffen, das sich nach uns anfühlt und dessen Herrichtung nicht gleich ein Vermögen kostet.

Gewusst wie: Einbauküche montieren (privat)

Inzwischen können wir nicht nur so ziemlich jedes Möbelstück, sondern auch ganze Einbauküchen auf- und einbauen, Fußböden abschleifen und ölen, Silikonfugen erneuern, Kabelkanäle legen und – worauf ich besonders stolz bin – sogar eigenständig Sanitärinstallationen vornehmen, mit Siphon und allem Pipapo. Dabei besteht der eigentliche Nervenkitzel gar nicht mal darin, Geld zu sparen. Viel wichtiger ist, dass man an seinen Aufgaben gewachsen ist und sich auf einmal sonderbar erwachsen und unabhängig fühlt. Denn hey, viele Dinge sind gar nicht schwer. Man braucht nur das passende Werkzeug, eine gewisse Portion Selbstvertrauen und ein gutes YouTube-Tutorial. Meine Freundin K., die jüngst ihren Toilettenspülkasten eigens auseinandergebaut und gewartet hat, weiß genau, wovon ich rede.

Handwerker Porn: Badezimmerfugen im Vorher-Nachher-Vergleich (privat)

Die letzte Spießerbastion, die ich im vergangenen Sommer dann schließlich noch erstmals für mich eingenommen hatte, war das Thema Gärtnern auf dem Balkon. Zugegeben, in Berlin ist man ja gar nicht spießig, wenn man sich mit Nachhaltigkeit und Selbstversorgung auseinandersetzt. Obendrein hatte ich unseren Balkon nicht mit Stiefmütterchen, Geranien und kitschigen Dekoelementen aus dem NANU-NANA vollgepflastert, sondern stattdessen auf bienenfreundliche Blühpflanzen, Tomaten, rote Beete, Kartoffeln und Frühlingszwiebeln gesetzt.

Öko³: Berliner Bio-Balkontomaten (privat)

Das alles wuchs mal mehr und mal weniger erfolgreich, aber von gigantischen Erträgen darf man auf einem Balkon wohl ohnehin nicht träumen. Kein Wunder also, dass ich bei Spaziergängen mit unserem Hund immer neidisch über die Zäune der angrenzenden Schrebergärten linse, wo Obst- und Gemüsepflanzen um die Wette wuchern. Nicht selten finden sich hier jedoch auch die bereits erwähnten Dekofigürchen in den Beeten, schelmisch dreinblickende Gartenzwerge und Rasenflächen, die mit der Nagelschere getrimmt worden. Vielleicht gibt es also doch noch Hoffnung für mich?

Die richtige Perspektive

Denn eigentlich kann es mir ja auch egal sein, ob ich mich nun Spießer schimpfen muss oder nicht. Wen kratzt es, dass ich seit einer Ewigkeit nicht mehr feiern war und manchmal freitags schon um 23 Uhr in die Federn krieche, weil ich schlichtweg zu müde bin? Früher Queen of the Dancefloor, heute lieber Netflix und Duftkerzen. Und ja, oft genug fluche ich über „diese Jugendlichen“, die mit ihrer Schrottmusik auf dem Handy nach 22 Uhr noch durch unsere Straße ziehen, während ich in Ruhe meinen Côte du Rhône auf dem Balkon schlürfen will. Zeiten ändern dich, hat Bushido schließlich mal vor langer Zeit gesagt. Der ist inzwischen übrigens auch schon 41.

Mittlerweile kann ich ruhigen Gewissens meinen Platz im Berliner Partyleben jenen überlassen, die das alles noch vor sich haben. Die noch genügend Zeit und Energie haben, um stundenlang anzustehen, überteuerte Drinks hinunter zu stürzen und sich auf flüchtige Begegungen einzulassen, die sich ausschließlich aus diesem Moment speisen. Und nein, das meine ich weder zynisch noch herablassend. Genaugenommen bin ich sogar dankbar dafür, dass ich all dies erleben und auskosten durfte, bevor die Pandemie dem Kultur- und Nachtleben einen fetten Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wäre ich jetzt eine 23-jährige Studentin, die sich erst im vergangenen Jahr auf der Suche nach Freiheit, Spaß und Eskapaden hier niedergelassen hatte – ich wäre wohl ziemlich bedient.

Stattdessen aber habe ich das Privileg, mich an eine Zeit zu erinnern, in der ich nicht viel brauchte und trotzdem das Gefühl hatte, mir würde die ganze Stadt gehören. Natürlich wäre es gelogen, würde ich behaupten, dass mir dieses Lebensgefühl nicht ab und an fehlte. Womit wir wieder bei den Zigaretten vom Anfang sind. Nostalgie ist eine mächtige Emotion. Allerdings nur, solange man die Vergangenheit unangetastet lässt. Wer nach langer Abstinzenz wieder anfängt zu rauchen, muss meistens husten.

Umso tröstender ist da die Erkenntnis, das vergangene Erlebnisse einem niemand mehr nehmen kann. Manchmal muss man nur ein altes Facebook-Album rauskramen und schon ist man wieder dort, wo alles seinen Anfang genommen hat. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass früher alles besser war. Wer so denkt, wird wohl zwangsläufig zu der übelsten Sorte Spießer. Vielleicht ist es also gar nicht so schlimm, Tomaten zu züchten und am Wochenende zeitig schlafen zu gehen, auch wenn man früher die Clubs unsicher gemacht. Alles hat eben seine Zeit. Wichtig ist, dass man nicht stehenbleibt und sich andere Wege im Leben sucht, die man gern beschreitet. Mit oder ohne Pantoffeln.

Mai 2009, gegen 07:30 Uhr morgens auf der Greifwalder Str.
Erstmals bei Facebook unter dem Titel gepostet: A long way home. (privat)

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